Ukrainekrieg: 12 Thesen - 12 Entgegnungen
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24.2.2022 besteht nicht nur in der Gesamtgesellschaft, sondern auch in der Friedensbewegung eine große Verunsicherung darüber, wie das alles zu bewerten und einzuordnen ist. Viele, die sich bisher als Pazifisten gesehen haben, sahen ihre gewaltfreie Grundüberzeugung erschüttert, hatte doch ein großes Land seinen kleinen Nachbarn aus scheinbar heiterem Himmel überfallen. Hier konnte man doch nicht teilnahmslos zusehen, man musste einfach etwas tun gegen die „imperialistische Aggression“, das „Jahrhundertverbrechen“, den „Vernichtungskrieg“. Andernfalls geriet man schnell in den Ruch von „Russlandversteher“, „Lumpenpazifist“ oder gar „Moskaus 5. Kolonne“.
Um aber Wege aus dem Krieg zu finden, müssen wir vom Schwarz-Weiß-Denken abkommen und dabei auch die historischen Hintergründe einbeziehen. Deshalb hat das „Regionale Friedensbündnis VS“ häufig geäußerte Meinungen zum Ukrainekrieg aufgegriffen und diese aus friedenspolitisch-pazifistischer Sicht kommentiert. So sind 12 Thesen mit den jeweiligen Entgegnungen entstanden.
1. Der Westen trägt an diesem Krieg keine Schuld, Russland hat ihn begonnen – trotz aller diplomatischen Versuche, die Gewalt zu verhindern.
Unbestreitbar ist der russische Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig. Der militärische Einmarsch in ein souveränes Land mit katastrophalen Folgen für dessen Menschen und das Land ist nicht zu rechtfertigen.
Jedoch: Der Krieg kam nicht aus heiterem Himmel, sondern der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte, an welcher der Westen großen Anteil hat. So lehnte man seit der Wende 1990 sämtliche russischen Vorschläge zu einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung ab. Stattdessen dehnte man - entgegen der auf höchster Ebene gemachten Versprechen, die es trotz aller Dementis nachweislich gab - das NATO-Militärbündnis bis zur russischen Grenze aus. Noch im Dezember 2021 – 3 Monate vor Kriegsbeginn – ignorierte man das russische Angebot zu Gesprächen und Verhandlungen über den inzwischen schon sehr zugespitzten Konflikt. Auch als der Krieg 2022 schon begonnen hatte, wollte man nichts von einer schnellen Beendigung und damit friedlichen Lösung wissen. Denn auf Vermittlung sowohl des israelischen Ministerpräsidenten Bennett als auch des türkischen Präsidenten Erdogan hatte es im März und April 2022 weitreichende Verhandlungen über einen Waffenstillstand gegeben, ein unterschriftsreifes Abkommen zwischen der Ukraine und Russland lag bereits auf dem Tisch. Der ukrainische Präsident Selenski selbst lobte die Einigung gegenüber russischen Journalisten. Doch anstatt dies zu unterstützen, torpedierten die USA, Großbritannien und die NATO diesen Kompromissfrieden, indem sie die Ukraine drängten, den Krieg weiter zu führen und dazu Unterstützung mit Waffenlieferungen versprachen. Es gab also keine ernstgemeinten diplomatische Versuche des Westens, die Gewalt zu verhindern.
2. Die osteuropäischen Staaten müssen sich doch frei entscheiden können, ob sie sich dem NATO-Bündnis anschließen wollen. Sie sind ja nicht gezwungen worden und ihr Entschluss basiert auf ihren negativen geschichtlichen Erfahrungen mit der Sowjetunion.
Erst einmal klingt das Argument überzeugend und lange Zeit hatte Russland auch keinen Widerspruch gegen die Beitritte eingelegt. Die Osterweiterung der NATO aber war politisch unklug.
Sie erfolgte entgegen der Zusage, die Gorbatschow gegeben worden war, die NATO keinen Zoll nach Osten zu erweitern. So wurde der historische Moment verpasst, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung gemeinsam zu erstellen.
Spätestens, als es um die Aufnahme der Ukraine ging und die Äußerungen westlicher Politiker nicht eindeutig waren, hätte man die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen müssen. Dass für Russland hier die rote Linie lag, hatte Putin sehr deutlich gemacht. Die USA hatten es sich in der Cuba-Krise 1962 nicht bieten lassen, dass russische Atomraketen vor ihrer Haustür stationiert wurden
3. Die „Entspannungspolitik“ der 70er und 80er Jahre gegenüber Russland ist gescheitert, da der Westen zu nachgiebig war. Deshalb ist die „Zeitenwende“ mit Stärkung des Militärs überfällig.
Das Problem ist eher umgekehrt, dass in den Jahren nach 1990 die Entspannungspolitik, der Deutschland die Wiedervereinigung und Europa viele Friedensjahre zu verdanken hat, nicht weitergeführt wurde. Weil die USA sich als Sieger des Kalten Kriegs sahen und Russland auf Dauer schwächen wollten, gingen sie nie ernsthaft auf dessen Verständigungs- und Kooperationsangebote ein (z.B. „Europäisches Haus“ von Gorbatschow und Kohl). Ohne russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, wurden die EU und NATO bis an die russische Grenze ausgeweitet, zudem Rüstungskontrollabkommen gekündigt und Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien stationiert, die ohne großen Aufwand mit atomaren Angriffsraketen bestückt werden könnten. So entstanden immer mehr Gegensätze, die bis zur heutigen Gegnerschaft führten. Der Kampf um die Ukraine, die schon immer in sich gespalten war, war dann der letzte Stein, der die kriegerische Auseinandersetzung ins Rollen brachte. Die sogenannte „Zeitenwende“ packt das Übel von der genau falschen Seite an: Immer mehr Waffen und Militär führen zu immer stärkerer Eskalation und gefährlicher Feindschaft.
4. Krieg darf sich nicht lohnen - ein Angriffskrieg darf sich für die Angreifer nicht auszahlen
Eine richtige Feststellung. Aber wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen? Ein Beispiel: Die USA hat laut eigenem Wissenschaftlichem Dienst des US-Kongresses seit 1991 ca. 250 militärische Auslandseinsätze unternommen, ohne dass es je eine so empörte Reaktion gegeben hätte wie jetzt zu Recht gegen Russland. So wurde z.B. der Irak überfallen mit bis zu 1 Million Toten, aber fast nie war die Rede vom „US-amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak“, wie es nun umgekehrt bei Russland permanent wiederholt wird. Der damals verantwortliche US-Präsident Bush wurde nie wie jetzt Putin vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt und kein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Ähnlich verhält es sich mit den Kriegen gegen Serbien, Afghanistan oder Libyen.
Eindeutig herrscht hier eine Doppelmoral.
5. Verhandlungen mit Putin machen keinen Sinn, da man sonst auf seine Maximalforderungen eingehen müsste (Krim, Donbass, Neutralität).
Auch die Ukraine beharrt auf maximalen Forderungen wie z.B. der Rückeroberung der Krim, was sogar in der Verfassung verankerte wurde. Wenn aber beide Seiten auf ihren Maximalforderungen bestehen bleiben, wird der Krieg sich endlos in die Länge ziehen, ähnlich dem grausamen Stellungskrieg im 1. Weltkrieg. Diplomatischer Druck von außen muss die Gegner zwingen, aufeinander zuzugehen und für Kompromisse bereit zu sein.
Andernfalls droht ein dauerhafter Kriegszustand mit dem Risiko der unkalkulierbaren Eskalation.
Stattdessen sollten die bereits im März und April 2022 vereinbarten Kompromisse wieder aufgegriffen werden, als Russland bereit war, sich hinter die Linien von vor dem 24. Februar zurückzuziehen und auf den Regimewechsel in der Ukraine zu verzichten, während die Ukraine im Gegenzug die eigene Neutralität zusagte und auf den NATO-Betritt zu verzichten bereit war (s. These 1).
6. Mit Putin kann man überhaupt nicht verhandeln, er will die alten Grenzen der SU wiederherstellen und ein russisches Imperium errichten. Die Ukraine ist nur der erste Dominostein. Danach sind NATO-Länder dran.
Dass Russland zu Verhandlungen bereit ist, wurde bei den nahezu erfolgreichen Waffenstillstandsverhandlungen vom März und April 2022 erkennbar (s. These 1 und 5). Es waren die westlichen Regierungen, allen voran die USA und Großbritannien, die einen Vertragsabschluss verhinderten.
Inzwischen ist es sogar umgekehrt so, dass die ukrainische Regierung per Dekret Verhandlungen mit Putin verboten hat.
Für die verbreitete Annahme, Russland wolle sich die Ukraine einverleiben oder gar die alten Grenzen des Zarenreichs oder der Sowjetunion wiederherstellen, wie es in westlichen Medien oft zu lesen ist, gibt es keinen Beleg. Im Gegenteil, Putin sagt, das sei gegen jede Vernunft. Denn auch er bzw. die russische Führung weiß, dass dies den 3. Weltkrieg auslösen würde und damit einen nicht mehr kontrollierbaren Atomkrieg.
7. Der gesamte russische Staat ist diktatorisch und eine mafiöse kriminelle Organisation. Dieses Beispiel darf keine Schule machen. Auch deshalb müssen die Kontakte zu Russland auf ein Minimum begrenzt werden.
Vielen Staaten wird wie Russland der Vorwurf gemacht, diktatorisch und mafiös zu sein. Würde nur mit den den eigenen Vorstellungen entsprechenden demokratischen Staaten verhandelt, d.h. nur nach moralischen Gesichtspunkten ausgewählt werden, dürften z. B. auch keine Kontakte mit Saudi-Arabien oder Katar aufgenommen werden. Das ist aber der Fall. Manches Mal sind in der Politik nur so Wege eröffnet worden. Als Beispiele: Geiselaustausch und Waffenruhe im Nahen Osten durch Vermittlung von Katar oder die Entspannungspolitik der 70er Jahre unter Willy Brandt und Egon Bahr. Auch damals entsprachen die Sowjetunion und die Ostblockländer nicht unseren Vorstellungen von demokratischen Staaten. Dennoch wurde mit ihnen erfolgreich verhandelt.
8. Erst ein Regimewechsel in Russland führt zum Ende des Krieges. Solange müssen der Krieg und die Sanktionen weiter gehen.
Ein Regimewechsel in Russland ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu erkennen. Und sollte es dennoch dazu kommen, wäre denkbar, dass noch radikalere Kräfte an die Macht kommen.
Mit militärischen Mitteln vom Westen verursachte Regimewechsel haben in den letzten Jahrzehnten sehr heftige destruktive Folgen in den entsprechenden Ländern verursacht. Die unmittelbar betroffenen Länder wie Afghanistan, Libyen und Irak sind weit entfernt von stabilen Verhältnissen. Es herrscht dort größte Armut, während die Kriegseinsätze riesige Summen kosteten, der Kriegseinsatz der USA in Afghanistan allein über zwei Billionen US Dollar.
9. Ohne Waffengewalt müsste sich die Ukraine dem Aggressor unterwerfen. Mit friedlichen und gewaltfreien Mitteln kann man sich nicht gegen den russischen Vernichtungskrieg wehren.
Jedes Land, das angegriffen wird, hat laut UN-Charta Art. 51 das Recht sich zu verteidigen. Das entbindet nicht der Verpflichtung, alle nur möglichen Wege aus der Eskalation zu suchen und sie aktiv zu befördern. Vermittlungen wurden immer wieder angeboten: von China, von Brasilien, von Mexiko, von Südafrika. Anstatt sie negativ zu bewerten oder sogar zu belächeln – wie von der Politik wie in den Medien vielfach geschehen – sollten sie aufgegriffen und unterstützt werden. Denn inzwischen sieht es immer mehr danach aus, dass die Ukraine – wenn nicht bald erfolgreich Friedensverhandlungen geführt werden – sich trotz der verlustreichen Verteidigung dem Aggressor unterwerfen muss. Es droht ein lang andauernder Kriegszustand, an dem niemand ein Interesse haben kann.
Gewaltfreie Verteidigung – d. h. ohne Waffen - braucht eine Einübung in Friedenszeiten. Damit müsste endlich begonnen werden. Ein Schritt wäre es jetzt schon, Kriegsdienstverweigerern Asyl zu gewähren, denn sowohl in Russland als auch in der Ukraine werden sie strafrechtlich verfolgt, obwohl Kriegsdienstverweigerung 1987 von der UNO als Menschenrecht anerkannt wurde.
10. Die Ukraine muss selbst entscheiden, ob sie bereit zu einem Waffenstillstand ist oder weiter Krieg führen will.
Ohne die starke militärische Unterstützung des Westens könnte die Ukraine diesen Krieg nicht führen. Hinzu kommt die Ausbildung von ukrainischem Militär an den zu liefernden Waffen. Auch da entscheiden die westlichen Staaten mit.
Es gibt aber noch mehrere Gründe, der Ukraine nicht allein die Entscheidung zu überlassen: die militärische Unterstützung kostet Milliardenbeträge, die den Ländern in den sozialen Bereichen und global bei der Bekämpfung der Klimakrise fehlen.
Zudem betreffen die drohenden Folgen einer Eskalation des Krieges nicht allein die Ukraine. Der zu befürchtende Einsatz von Atomwaffen könnte einen vernichtenden Flächenbrand entfachen, der auch weit über die Grenzen Europas hinaus eine Gefahr für die gesamte Menschheit bedeutet. Das Eskalationsrisiko kann deshalb nicht allein der Ukraine überlassen werden.
11. Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, denn der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Demokratie und die westlichen Werte.
Hier muss man sich die Frage stellen, welche Werte verteidigt werden müssen. Einen hohen Stellenwert hat sicher u.a. die Meinungsfreiheit. Aber zu den Werten gehören auch der Frieden (Art. 1 Abs. 2 GG „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten...des Friedens...“ ) und der Schutz von Leben (Art. 2 Abs.2 GG „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“). Über diese zu verteidigende Werte wird viel zu wenig gesprochen. Stattdessen findet im Osten der Ukraine ein Stellungskrieg ähnlich dem im ersten Weltkrieg statt, der Tausende von Menschenleben kostet und den Konflikt keinen Schritt einer Lösung näherbringt.
Oft geht es auch gar nicht um Werte, sondern um handfeste Interessen, wenn z.B. große westliche Agrarkonzerne Tochterunternehmen gründen, um im großen Maßstab fruchtbare ukrainische Ackerböden aufzukaufen. Spätestens hier wird erkennbar, dass viel Heuchelei mit im Spiel ist.
12. Es müssen immer neue und härtere Sanktionen ergriffen werden, um Russland zu schwächen.
Bisher haben die Sanktionen wenig Erfolg gezeigt. Russland hat neue Abnehmer gefunden und Deutschland muss Energie zu wesentlich höheren Preisen beziehen. Absurderweise kauft Deutschland jetzt teures Öl entweder von Indien, das es billig von Russland bezieht, oder teures umweltschädlich gewonnenes Fracking-Gas aus den USA oder Öl aus Aserbaidschan oder Katar. Die moralischen Ansprüche spielen dann plötzlich keine Rolle mehr.
Regionales Friedensbündnis VS, Januar 2024
Text: Ekkehard Hausen, Isabell Kuchta-Papp, Helmut Lohrer