Ukraine

Ukrainekrieg: 12 Thesen - 12 Entgegnungen

Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24.2.2022 besteht nicht nur in der Gesamtgesellschaft, sondern auch in der Friedensbewegung eine große Verunsicherung darüber, wie das alles zu bewerten und einzuordnen ist. Viele, die sich bisher als Pazifisten gesehen haben, sahen ihre gewaltfreie Grundüberzeugung erschüttert, hatte doch ein großes Land seinen kleinen Nachbarn aus scheinbar heiterem Himmel überfallen. Hier konnte man doch nicht teilnahmslos zusehen, man musste einfach etwas tun gegen die „imperialistische Aggression“, das „Jahrhundertverbrechen“, den „Vernichtungskrieg“. Andernfalls geriet man schnell in den Ruch von „Russlandversteher“, „Lumpenpazifist“ oder gar „Moskaus 5. Kolonne“. 
Um aber Wege aus dem Krieg zu finden, müssen wir vom Schwarz-Weiß-Denken abkommen und dabei auch die historischen Hintergründe einbeziehen. Deshalb hat das „Regionale Friedensbündnis VS“ häufig geäußerte Meinungen zum Ukrainekrieg aufgegriffen und diese aus friedenspolitisch-pazifistischer Sicht kommentiert. So sind 12 Thesen mit den jeweiligen Entgegnungen entstanden. 

1. Der Westen trägt an diesem Krieg keine Schuld, Russland hat ihn begonnen – trotz aller diplomatischen Versuche, die Gewalt zu verhindern. 

Unbestreitbar ist der russische Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig. Der militärische Einmarsch in ein souveränes Land mit katastrophalen Folgen für dessen Menschen und das Land ist nicht zu rechtfertigen.
Jedoch: Der Krieg kam nicht aus heiterem Himmel, sondern der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte, an welcher der Westen großen Anteil hat. So lehnte man seit der Wende 1990 sämtliche russischen Vorschläge zu einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung ab. Stattdessen dehnte man - entgegen der auf höchster Ebene gemachten Versprechen, die es trotz aller Dementis nachweislich gab - das NATO-Militärbündnis bis zur russischen Grenze aus. Noch im Dezember 2021 – 3 Monate vor Kriegsbeginn – ignorierte man das russische Angebot zu Gesprächen und Verhandlungen über den inzwischen schon sehr zugespitzten Konflikt. Auch als der Krieg 2022 schon begonnen hatte, wollte man nichts von einer schnellen Beendigung und damit friedlichen Lösung wissen. Denn auf Vermittlung sowohl des israelischen Ministerpräsidenten Bennett als auch des türkischen Präsidenten Erdogan hatte es im März und April 2022 weitreichende Verhandlungen über einen Waffenstillstand gegeben, ein unterschriftsreifes Abkommen zwischen der Ukraine und Russland lag bereits auf dem Tisch. Der ukrainische Präsident Selenski selbst lobte die Einigung gegenüber russischen Journalisten. Doch anstatt dies zu unterstützen, torpedierten die USA, Großbritannien und die NATO diesen Kompromissfrieden, indem sie die Ukraine drängten, den Krieg weiter zu führen und dazu Unterstützung mit Waffenlieferungen versprachen. Es gab also keine ernstgemeinten diplomatische Versuche des Westens, die Gewalt zu verhindern.

2. Die osteuropäischen Staaten müssen sich doch frei entscheiden können, ob sie sich dem NATO-Bündnis anschließen wollen. Sie sind ja nicht gezwungen worden und ihr Entschluss basiert auf ihren negativen geschichtlichen Erfahrungen mit der Sowjetunion.

Erst einmal klingt das Argument überzeugend und lange Zeit hatte Russland auch keinen Widerspruch gegen die Beitritte eingelegt. Die Osterweiterung der NATO aber war politisch unklug.
Sie erfolgte entgegen der Zusage, die Gorbatschow gegeben worden war, die NATO keinen Zoll nach Osten zu erweitern. So wurde der historische Moment verpasst, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung gemeinsam zu erstellen.
Spätestens, als es um die Aufnahme der Ukraine ging und die Äußerungen westlicher Politiker nicht eindeutig waren, hätte man die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen müssen. Dass für Russland hier die rote Linie lag, hatte Putin sehr deutlich gemacht. Die USA hatten es sich in der Cuba-Krise 1962 nicht bieten lassen, dass russische Atomraketen vor ihrer Haustür stationiert wurden

3. Die „Entspannungspolitik“ der 70er und 80er Jahre gegenüber Russland ist gescheitert, da der Westen zu nachgiebig war. Deshalb ist die „Zeitenwende“ mit Stärkung des Militärs überfällig. 

Das Problem ist eher umgekehrt, dass in den Jahren nach 1990 die Entspannungspolitik, der Deutschland die Wiedervereinigung und Europa viele Friedensjahre zu verdanken hat, nicht weitergeführt wurde. Weil die USA sich als Sieger des Kalten Kriegs sahen und Russland auf Dauer schwächen wollten, gingen sie nie ernsthaft auf dessen Verständigungs- und Kooperationsangebote ein (z.B. „Europäisches Haus“ von Gorbatschow und Kohl).  Ohne russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, wurden die EU und NATO bis an die russische Grenze ausgeweitet, zudem Rüstungskontrollabkommen gekündigt und Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien stationiert, die ohne großen Aufwand mit atomaren Angriffsraketen bestückt werden könnten. So entstanden immer mehr Gegensätze, die bis zur heutigen Gegnerschaft führten. Der Kampf um die Ukraine, die schon immer in sich gespalten war, war dann der letzte Stein, der die kriegerische Auseinandersetzung ins Rollen brachte. Die sogenannte „Zeitenwende“ packt das Übel von der genau falschen Seite an: Immer mehr Waffen und Militär führen zu immer stärkerer Eskalation und gefährlicher Feindschaft.

4. Krieg darf sich nicht lohnen - ein Angriffskrieg darf sich für die Angreifer nicht auszahlen

Eine richtige Feststellung. Aber wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen? Ein Beispiel: Die USA hat laut eigenem Wissenschaftlichem Dienst des US-Kongresses seit 1991 ca. 250 militärische Auslandseinsätze unternommen, ohne dass es je eine so empörte Reaktion gegeben hätte wie jetzt zu Recht gegen Russland. So wurde z.B. der Irak überfallen mit bis zu 1 Million Toten, aber fast nie war die Rede vom „US-amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak“, wie es nun umgekehrt bei Russland permanent wiederholt wird. Der damals verantwortliche US-Präsident Bush wurde nie wie jetzt Putin vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt und kein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Ähnlich verhält es sich mit den Kriegen gegen Serbien, Afghanistan oder Libyen. 
Eindeutig herrscht hier eine Doppelmoral.

5. Verhandlungen mit Putin machen keinen Sinn, da man sonst auf seine Maximalforderungen eingehen müsste (Krim, Donbass, Neutralität). 

Auch die Ukraine beharrt auf maximalen Forderungen wie z.B. der Rückeroberung der Krim, was sogar in der Verfassung verankerte wurde. Wenn aber beide Seiten auf ihren Maximalforderungen bestehen bleiben, wird der Krieg sich endlos in die Länge ziehen, ähnlich dem grausamen Stellungskrieg im 1. Weltkrieg. Diplomatischer Druck von außen muss die Gegner zwingen, aufeinander zuzugehen und für Kompromisse bereit zu sein. 
Andernfalls droht ein dauerhafter Kriegszustand mit dem Risiko der unkalkulierbaren Eskalation.
Stattdessen sollten die bereits im März und April 2022 vereinbarten Kompromisse wieder aufgegriffen werden, als Russland bereit war, sich hinter die Linien von vor dem 24. Februar zurückzuziehen und auf den Regimewechsel in der Ukraine zu verzichten, während  die Ukraine im Gegenzug die eigene Neutralität zusagte und auf den NATO-Betritt zu verzichten bereit war (s. These 1)

6. Mit Putin kann man überhaupt nicht verhandeln, er will die alten Grenzen der SU wiederherstellen und ein russisches Imperium errichten. Die Ukraine ist nur der erste Dominostein. Danach sind NATO-Länder dran. 

Dass Russland zu Verhandlungen bereit ist, wurde bei den nahezu erfolgreichen Waffenstillstandsverhandlungen vom März und April 2022 erkennbar (s. These 1 und 5). Es waren die westlichen Regierungen, allen voran die USA und Großbritannien, die einen Vertragsabschluss verhinderten.
Inzwischen ist es sogar umgekehrt so, dass die ukrainische Regierung per Dekret Verhandlungen mit Putin verboten hat.
Für die verbreitete Annahme, Russland wolle sich die Ukraine einverleiben oder gar die alten Grenzen des Zarenreichs oder der Sowjetunion wiederherstellen, wie es in westlichen Medien oft zu lesen ist, gibt es keinen Beleg. Im Gegenteil, Putin sagt, das sei gegen jede Vernunft. Denn auch er bzw. die russische Führung weiß, dass dies den 3. Weltkrieg auslösen würde und damit einen nicht mehr kontrollierbaren Atomkrieg.

7. Der gesamte russische Staat ist diktatorisch und eine mafiöse kriminelle Organisation. Dieses Beispiel darf keine Schule machen. Auch deshalb müssen die Kontakte zu Russland auf ein Minimum begrenzt werden.

Vielen Staaten wird wie Russland der Vorwurf gemacht, diktatorisch und mafiös zu sein. Würde nur mit den den eigenen Vorstellungen entsprechenden demokratischen Staaten verhandelt, d.h. nur nach moralischen Gesichtspunkten ausgewählt werden, dürften z. B. auch keine Kontakte mit Saudi-Arabien oder Katar aufgenommen werden. Das ist aber der Fall. Manches Mal sind in der Politik nur so Wege eröffnet worden.  Als Beispiele: Geiselaustausch und Waffenruhe im Nahen Osten durch Vermittlung von Katar oder die Entspannungspolitik der 70er Jahre unter Willy Brandt und Egon Bahr. Auch damals entsprachen die Sowjetunion und die Ostblockländer nicht unseren Vorstellungen von demokratischen Staaten. Dennoch wurde mit ihnen erfolgreich verhandelt.

8. Erst ein Regimewechsel in Russland führt zum Ende des Krieges. Solange müssen der Krieg und die Sanktionen weiter gehen. 

Ein Regimewechsel in Russland ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu erkennen. Und sollte es dennoch dazu kommen, wäre denkbar, dass noch radikalere Kräfte an die Macht kommen.
Mit militärischen Mitteln vom Westen verursachte Regimewechsel haben in den letzten Jahrzehnten sehr heftige destruktive Folgen in den entsprechenden Ländern verursacht. Die unmittelbar betroffenen Länder wie Afghanistan, Libyen und Irak sind weit entfernt von stabilen Verhältnissen. Es herrscht dort größte Armut, während die Kriegseinsätze riesige Summen kosteten, der Kriegseinsatz der USA in Afghanistan allein über zwei Billionen US Dollar. 

9. Ohne Waffengewalt müsste sich die Ukraine dem Aggressor unterwerfen. Mit friedlichen und gewaltfreien Mitteln kann man sich nicht gegen den russischen Vernichtungskrieg wehren. 

Jedes Land, das angegriffen wird, hat laut UN-Charta Art. 51 das Recht sich zu verteidigen. Das entbindet nicht der Verpflichtung, alle nur möglichen Wege aus der Eskalation zu suchen und sie aktiv zu befördern. Vermittlungen wurden immer wieder angeboten: von China, von Brasilien, von Mexiko, von Südafrika. Anstatt sie negativ zu bewerten oder sogar zu belächeln – wie von der Politik wie in den Medien vielfach geschehen – sollten sie aufgegriffen und unterstützt werden. Denn inzwischen sieht es immer mehr danach aus, dass die Ukraine – wenn nicht bald erfolgreich Friedensverhandlungen geführt werden – sich trotz der verlustreichen Verteidigung dem Aggressor unterwerfen muss. Es droht ein lang andauernder Kriegszustand, an dem niemand ein Interesse haben kann. 
Gewaltfreie Verteidigung – d. h. ohne Waffen - braucht eine Einübung in Friedenszeiten. Damit müsste endlich begonnen werden. Ein Schritt wäre es jetzt schon, Kriegsdienstverweigerern Asyl zu gewähren, denn sowohl in Russland als auch in der Ukraine werden sie strafrechtlich verfolgt, obwohl Kriegsdienstverweigerung 1987 von der UNO als Menschenrecht anerkannt wurde. 

10. Die Ukraine muss selbst entscheiden, ob sie bereit zu einem Waffenstillstand ist oder weiter Krieg führen will.

Ohne die starke militärische Unterstützung des Westens könnte die Ukraine diesen Krieg nicht führen. Hinzu kommt die Ausbildung von ukrainischem Militär an den zu liefernden Waffen. Auch da entscheiden die westlichen Staaten mit. 
Es gibt aber noch mehrere Gründe, der Ukraine nicht allein die Entscheidung zu überlassen: die militärische Unterstützung kostet Milliardenbeträge, die den Ländern in den sozialen Bereichen und global bei der Bekämpfung der Klimakrise fehlen. 
Zudem betreffen die drohenden Folgen einer Eskalation des Krieges nicht allein die Ukraine. Der zu befürchtende Einsatz von Atomwaffen könnte einen vernichtenden Flächenbrand entfachen, der auch weit über die Grenzen Europas hinaus eine Gefahr für die gesamte Menschheit bedeutet. Das Eskalationsrisiko kann deshalb nicht allein der Ukraine überlassen werden.

11. Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, denn der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Demokratie und die westlichen Werte.

Hier muss man sich die Frage stellen, welche Werte verteidigt werden müssen. Einen hohen Stellenwert hat sicher u.a. die Meinungsfreiheit. Aber zu den Werten gehören auch der Frieden (Art. 1 Abs. 2 GG „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten...des Friedens...“  ) und der Schutz von Leben (Art. 2 Abs.2 GG  „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“). Über diese zu verteidigende Werte wird viel zu wenig gesprochen. Stattdessen findet im Osten der Ukraine ein Stellungskrieg ähnlich dem im ersten Weltkrieg statt, der Tausende von Menschenleben kostet und den Konflikt keinen Schritt einer Lösung näherbringt. 
Oft geht es auch gar nicht um Werte, sondern um handfeste Interessen, wenn z.B. große westliche Agrarkonzerne Tochterunternehmen gründen, um im großen Maßstab fruchtbare ukrainische Ackerböden aufzukaufen. Spätestens hier wird erkennbar, dass viel Heuchelei mit im Spiel ist.

12. Es müssen immer neue und härtere Sanktionen ergriffen werden, um Russland zu schwächen.

Bisher haben die Sanktionen wenig Erfolg gezeigt. Russland hat neue Abnehmer gefunden und Deutschland muss Energie zu wesentlich höheren Preisen beziehen.  Absurderweise kauft Deutschland jetzt teures Öl entweder von Indien, das es billig von Russland bezieht, oder teures umweltschädlich gewonnenes Fracking-Gas aus den USA oder Öl aus Aserbaidschan oder Katar. Die moralischen Ansprüche spielen dann plötzlich keine Rolle mehr.  

Regionales Friedensbündnis VS, Januar 2024
Text: Ekkehard Hausen, Isabell Kuchta-Papp, Helmut Lohrer

Ukrainische Pazifistische Bewegung: Friedensagenda für die Ukraine und die ganze Welt

Erklärung der "Ukrainischen Pazifistischen Bewegung", angenommen auf dem Treffen am Internationalen Tag des Friedens am 21. September 2022.

Wir, die ukrainischen Pazifist*innen, fordern und engagieren uns für die Beendigung des Krieges mit friedlichen Mitteln und das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.

Frieden, nicht Krieg, ist die Norm des menschlichen Lebens. Krieg ist ein organisierter Massenmord. Unsere wichtigste Pflicht ist, dass wir nicht töten. Heute, wo der moralische Kompass überall verloren geht und die selbstzerstörerische Unterstützung für Krieg und Militär zunimmt, ist es besonders wichtig, dass wir den gesunden Menschenverstand bewahren, unserer gewaltfreien Lebensweise treu bleiben, Frieden schaffen und friedliebende Menschen unterstützen.

Die UN-Generalversammlung verurteilte die russische Aggression gegen die Ukraine und forderte eine sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine und betonte, dass die Konfliktparteien die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht achten müssen. Wir teilen diese Position.

Die derzeitige Politik des Krieges bis zum absoluten Sieg und die Missachtung der Kritik von Menschenrechtsaktivist*innen ist inakzeptabel und muss sich ändern. Was wir brauchen, sind ein Waffenstillstand, Friedensgespräche und ernsthafte Bemühungen, die tragischen Fehler zu korrigieren, die auf beiden Seiten des Konflikts gemacht wurden. Eine Verlängerung des Krieges hat katastrophale, tödliche Folgen und zerstört weiterhin die Gesellschaft und die Umwelt nicht nur in der Ukraine, sondern in der ganzen Welt. Früher oder später werden sich die Parteien an den Verhandlungstisch setzen, und wenn nicht aufgrund ihrer rationalen Entscheidung, dann unter dem Druck des unerträglichen Leids und der völligen Erschöpfung, die man durch die Wahl des diplomatischen Weges besser vermeiden sollte.

Es ist ein Fehler, sich auf die Seite einer der kriegführenden Armeen zu stellen. Es ist notwendig, sich auf die Seite des Friedens und der Gerechtigkeit zu schlagen. Selbstverteidigung kann und sollte mit gewaltfreien und unbewaffneten Methoden erfolgen. Jede brutale Regierung ist illegitim, und nichts rechtfertigt die Unterdrückung von Menschen und das Blutvergießen für die illusorischen Ziele der totalen Kontrolle oder der Eroberung von Territorien. Niemand kann sich der Verantwortung für sein eigenes Fehlverhalten entziehen, indem er sich darauf beruft, Opfer des Fehlverhaltens anderer zu sein. Falsches und sogar kriminelles Verhalten einer Partei kann nicht die Konstruktion eines Mythos über einen Feind rechtfertigen, mit dem es angeblich unmöglich ist zu verhandeln und der um jeden Preis vernichtet werden muss, einschließlich der Selbstzerstörung. Der Wunsch nach Frieden ist ein natürliches Bedürfnis eines jeden Menschen. Er darf aber keine negative Beziehung zu einem mysteriösen Feind rechtfertigen.

Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war in der Ukraine nicht einmal in Friedenszeiten nach internationalen Standards gewährleistet, ganz zu schweigen unter den derzeitigen Bedingungen des Kriegsrechts. Der Staat hat es jahrzehntelang auf schändliche Weise vermieden, auf die einschlägigen Appelle des UN-Menschenrechtsausschusses und die öffentlichen Proteste ernsthaft zu reagieren, und tut dies auch heute noch. Obwohl der Staat dieses Recht nicht einmal in Kriegszeiten oder anderen öffentlichen Notlagen außer Kraft setzen kann, wie es im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) heißt, weigert sich die Armee in der Ukraine, das allgemein anerkannte Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu respektieren. Sie verweigert durch die Mobilmachung sogar den Ersatz des Zwangsdienstes durch einen alternativen, nicht-militärischen Dienst, wie es die ukrainische Verfassung direkt vorschreibt. Eine solche skandalöse Missachtung der Menschenrechte darf in der Rechtsstaatlichkeit keinen Platz haben.

Staat und Gesellschaft müssen der Willkür und dem Unrechtsbewusstsein der ukrainischen Streitkräfte ein Ende setzen, die sich in einer Politik der Schikanen und der Strafverfolgung bei Verweigerung des Kriegseinsatzes und der erzwungenen Umfunktionierung von Zivilisten zu Soldaten äußern. Dadurch können sich Zivilisten weder innerhalb des Landes frei bewegen noch ins Ausland gehen, selbst wenn sie vitale Bedürfnisse haben, um sich vor Gefahren zu retten, eine Ausbildung zu erhalten, Mittel für den Lebensunterhalt, die berufliche und kreative Selbstverwirklichung usw. zu finden.

Die Regierungen und Zivilgesellschaften der Welt schienen der Geißel des Krieges hilflos ausgeliefert zu sein, da sie in den Strudel des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland und der allgemeinen Feindschaft zwischen den NATO-Ländern, Russland und China hineingezogen wurden. Selbst die Androhung der Vernichtung allen Lebens auf dem Planeten durch Atomwaffen hat dem verrückten Wettrüsten kein Ende gesetzt, und der Haushalt der UNO, der wichtigsten Institution für den Frieden auf der Erde, beläuft sich auf nur 3 Milliarden Dollar, während die weltweiten Militärausgaben um das Hundertfache höher sind und einen gigantischen Betrag von 2 Billionen Dollar überschritten haben. Aufgrund ihrer Neigung, massenhaftes Blutvergießen zu organisieren und Menschen zum Töten zu zwingen, haben sich die Nationalstaaten als unfähig erwiesen, eine gewaltfreie demokratische Regierung zu führen und ihre grundlegenden Funktionen zum Schutz des Lebens und der Freiheit der Menschen zu erfüllen.

Die Eskalation der bewaffneten Konflikte in der Ukraine und in der Welt ist unserer Meinung nach darauf zurückzuführen, dass die bestehenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Systeme, das Bildungswesen, die Kultur, die Zivilgesellschaft, die Massenmedien, die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die Führungspersönlichkeiten, die Wissenschaftler*innen, die Expert*innen, die Fachleute, die Eltern, die Lehrer*innen, die Mediziner*innen, die Denker*innen, die schöpferischen und religiösen Akteur*innen ihren Aufgaben zur Stärkung der Normen und Werte einer gewaltfreien Lebensweise nur unvollständig nachkommen, so wie es in der Erklärung und dem Aktionsprogramm über eine Kultur des Friedens vorgesehen ist, das von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Beweise für die vernachlässigten friedensfördernden Aufgaben sind die archaischen und gefährlichen Praktiken, die beendet werden müssen: militärisch-patriotische Erziehung, Wehrpflicht, Fehlen einer systematischen öffentlichen Friedenserziehung, Kriegspropaganda in den Massenmedien, Unterstützung des Krieges durch Nichtregierungsorganisationen, Widerwillen einiger
Menschenrechtsaktivist*innen, sich konsequent für die volle Verwirklichung des Menschenrechts auf Frieden und auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen einzusetzen. Wir erinnern die Akteur*innen an ihre friedensstiftenden Pflichten und werden unnachgiebig auf die Einhaltung dieser Pflichten pochen.

Wir sehen es als Ziel unserer Friedensbewegung und aller Friedensbewegungen der Welt an, das Menschenrecht auf Verweigerung des Tötens aufrechtzuerhalten, den Krieg in der Ukraine und alle Kriege in der Welt zu beenden und nachhaltigen Frieden und Entwicklung für alle Menschen auf dem Planeten zu sichern. Um diese Ziele zu erreichen, werden wir die Wahrheit über das Böse und den Betrug des Krieges sagen, praktisches Wissen über ein friedliches Leben ohne Gewalt oder mit deren Minimierung lernen und lehren, und wir werden den Benachteiligten helfen, insbesondere denjenigen, die von Kriegen und ungerechtem Zwang zur Unterstützung der Armee oder zur Teilnahme am Krieg betroffen sind.

Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, wir sind daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und uns für die Beseitigung aller Kriegsursachen einzusetzen.

Quelle: World BEYOND War
https://worldbeyondwar.org/ - 21.09.2022.

Originalartikel: Peace Agenda for Ukraine and the World
https://worldbeyondwar.org/peace-agenda-for-ukraine-and-the-world/.
Übersetzung: Michael Schmid.

Offener Brief der Intellektuellen und KünstlerInnen an Bundeskanzler Scholz

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.

Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.

Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.

Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.

Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.

Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung - und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.

Wir hoffen und zählen auf Sie!
Hochachtungsvoll
 

DIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN

Andreas Dresen, Filmemacher
Lars Eidinger, Schauspieler
Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin
Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin
Alexander Kluge, Intellektueller
Heinz Mack, Bildhauer
Gisela Marx, Filmproduzentin
Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
Reinhard Mey, Musiker
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gerhard Polt, Kabarettist
Helke Sander, Filmemacherin
HA Schult, Künstler
Alice Schwarzer, Journalistin
Robert Seethaler, Schriftsteller
Edgar Selge, Schauspieler
Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin
Franziska Walser, Schauspielerin
Martin Walser, Schriftsteller
Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker
Christoph, Karl und Michael Well, Musiker
Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Juli Zeh, Schriftstellerin
Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Medientheoretiker

Hier können Sie den Brief mitunterzeichnen ...

Deeskalation jetzt!
Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!

Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.

Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.

Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen.  Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.

Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch zu beenden.

Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang haben.

Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein. Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.

Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.

So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.

Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.

Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.

Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.

Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.

Hochachtungsvoll,

PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg

Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, Pen-Mitglied

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte

Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei ‒ Stoppt den Waffenhandel!

Joachim Guilliard, Publizist

Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB 2005-2013

Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)

Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin

Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW (deutsche Sektion)

Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler

Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD

Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende von Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste

Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages

Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe

Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg

Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter Generalsekretär der UNO

Dr. Antje Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor

Die fünfte Kolonne Wladimir Putins!

Rede von Helmut Lohrer beim Ostermarsch in Offenburg

So sieht sie also aus. Denn so hat der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Alexander Lambsdorff, uns Ostermarschierer beschimpft.
Und heute war im Südkurier zu lesen, wir seien unterwandert und würden russische Propaganda verbreiten. Das sagt der Baden-Württembergische Innenminister Strobl.
Das sind unerhörte Verzerrungen dessen, wofür wir als Friedensbewegung stehen.

Aber: Wir lassen uns in unserem Eintreten für den Frieden nicht irre machen.
Wir, die Friedensbewegung, verurteilen diesen Krieg, den Russland mit dem Einmarsch in die Ukraine begonnen hat. Der Angriff auf ein unabhängiges Land ist durch nichts zu rechtfertigen. Er verletzt das Völkerrecht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der vielen Opfer. Er bringt, wie jeder Krieg, nichts als Zerstörung und Leid. Und wir fordern von Präsident Putin:
Beenden Sie diesen verbrecherischen Krieg  !

Die Verantwortlichen für diesen Krieg – das gleiche gilt natürlich für die Verantwortlichen all der anderen Kriege, die geführt werden und wurden: In Syrien und Libyen, im Jemen, in Afghanistan und auch im Irak – gehören als Kriegsverbrecher vor den Internationalen Strafgerichtshof.

In all diesen Kriegen sterben Menschen, werden Menschen für den Rest ihres Lebens verstümmelt und traumatisiert. In all diesen Kriegen gab und gibt es Gräueltaten, Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wie in jedem Krieg, in jedem Streit gibt es immer mindestens zwei Seiten, mindestens zwei Sichtweisen. In diesem Krieg müssen auch wir, muss auch der Westen sich fragen lassen: Wurde alles getan bzw. unterlassen, um ihn zu verhindern?

Und ja, es stimmt, was die Juristen von IALANA in einem offenen Brief an die Bundesregierung geschrieben haben: Dieser Krieg hätte verhindert werden können, und er hätte verhindert werden müssen. Von beiden Seiten mangelte es am Willen, vielleicht auch am Vermögen, das zu tun.

Hätte der Westen seine Zusage eingehalten, Russland in das gemeinsame Haus Europas zu integrieren, von dem Michail Gorbatschow und Helmut Kohl geträumt haben. Hätte man die NATO, anstatt sie gegen alle Zusagen, gegen den Geist der Entspannungspolitik, der vor 30, 35 Jahren herrschte, nicht schrittweise auf Russland hin erweitert, sondern hätte man die Chance, als sich der Warschauer Pakt aufgelöst hat, genutzt und die NATO samt ihrer kriegerischen Logik eingemottet und aufgelöst. Und hätte man stattdessen auf dem Boden der OSZE ein gemeinsames Konzept der Sicherheit in Europa entwickelt, das die zuvor – und nun wieder – verfeindeten Seiten gleichermaßen einbezieht.

Wenn wir so aus dem Denken des Kalten Krieges herausgekommen wären, dann würde sich die jetzt zur Verhandlung stehende Frage nach der Neutralität der Ukraine gar nicht stellen. Und dann gäbe es heute keinen Krieg.

Stattdessen hat man zugesehen, wir alle konnten zusehen, wie die Spannung immer weiter anstieg.

Ja, der kriegerische Einfall der russischen Armee in die Ukraine ist ein Verbrechen. Aber die aktuelle Politik – auf beiden Seiten – droht diesen Krieg in eine Dimension eskalieren zu lassen, die wir uns alle nicht vorstellen wollen.

Dem Herrn Lambsdorf von der FDP, den Grünen - die früher mal zu uns, zur Friedensbewegung gehört haben, und der SPD rufe ich zu: Sehen ihr nicht, worauf die Politik, die ihr betreiben, zuläuft?

Die bereits erfolgten Waffenlieferungen, noch mehr die jetzt geforderten Lieferungen von schweren Waffen, heizen diesen Krieg an, anstatt dass endlich ein Waffenstillstand ausgehandelt wird und das Töten aufhört.

Und: Die Waffenlieferungen machen uns zur Kriegspartei. Schrittweise werden wir in diesen Krieg hineingezogen. Auf beiden Seiten werden immer mehr Rote Linien übertreten, die Spirale wird immer weiter angetrieben.

Wenn das nicht aufhört, dann entsteht hier, wie 1914 und 1939, wieder ein ganz großer Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, mit globaler Zerstörung und der realen Gefahr des Endes der menschlichen Zivilisation.

Meine Organisation, die IPPNW, hat schon vor 8 Jahren eine Studie veröffentlicht. Wissenschaftlich belegt durch KlimatologInnen und ErnährungsexpertInnen. Die steht im Internet, das kann man sich runterladen und anschauen, wenn man es denn wissen möchte.

Suchwort: nuclear famine

Schon der begrenze Einsatz einer relativ kleinen Zahl von Atomwaffen würde zu weltweiten signifikanten Klimaveränderungen führen, die dann auf dem gesamten Globus Hungersnot und Elend zur Folge haben und bis zu 2 Milliarden Menschen dem Hunger aussetzen.

Was aber droht, ist ein deutlich umfangreicherer Einsatz von Atomwaffen. Im entfesselten Atomkrieg gibt es am Ende keine Gewinner.

Ich sage das nicht aus dem hohlen Bauch, das sind belegbare Tatsachen. Auch wenn jetzt versucht wird, das zu verharmlosen. Das dumme Gerede von der Führbarkeit eines Atomkrieges, von Zivilschutz und Atombunkern ist gefährlicher Unsinn.

Im Atomkrieg gibt es keinen Schutz mehr, es gibt z.B. keine wirksame Behandlung der Strahlenkrankheit. Als Ärztinnen und Ärzte müssen wir sagen:
Wir werden Euch – und uns – nicht helfen können!

Dann sind die Millionen von unmittelbaren Opfern die Glücklichen, dann werden die Lebenden die Toten beneiden.

Das ist die Dimension, um die es hier geht, das muss uns allen mal klar werden.

Und dann dämmert uns:

Wo immer wir in dieser Situation stehen. Ob Ukrainer oder Russen, ob wir aus Westeuropa kommen oder den USA. Ob wir für robustes Eintreten oder fürs Verhandeln sind: Jetzt geht es darum, ob wir das gemeinsam überleben.

Deshalb rufe ich von hier aus nach Berlin. Herr Scholz, Frau Baerbock: Überlegen Sie sich Schritte, die zur Deeskalation führen. Überlegen Sie sich, ob die Worte, die Sie sprechen, die Waffen, die Sie liefern, ob die Destabilisierung Russlands mithilfe von Wirtschaftssanktionen, ob all das nicht dazu beiträgt, diesen Krieg immer weiter anzuheizen. Und ob es nicht gelingen kann, Brücken zu bauen, anstatt sie nun alle einzureißen.

Und unterschreiben Sie endlich den Atomwaffenverbotsvertrag!

Es ist extrem kurzsichtig zu glauben, dass mit Hilfe einer extremen Aufrüstung – die unvorstellbare Summe von 100 Milliarden Euro soll ausgegeben werden – Frieden und Sicherheit geschaffen werden.

Das genaue Gegenteil ist der Fall, liebe Freundinnen und -Freunde.

Für 100 Milliarden werden ja keine Jacken und Unterhosen gekauft. Es sollen zum Beispiel F35 Tarnkappenbomber angeschaffte werden, 100 Millionen Euro pro Stück. Sie dienen unter anderem dazu, dass deutsche Piloten den Einsatz der neuen Version der B61 Atombomben, die in Büchel stationiert sind, trainieren und – im Ernstfall – sie auch einsetzen. Indem in den verblendeten Augen der Strategen der Atomkrieg führbarer gemacht wird, wird das gesamte System immer instabiler.

Die 100 Milliarden sollten besser in Bildung, in den kulturellen Austausch, in friedliche Projekte der Völkerverständigung investiert werden. Und in Konzepte zur Lösung der uns gleichzeitig und immer deutlicher bedrohenden Klimakatastrophe. Dafür werden diese Mittel gebraucht, nicht für die feuchten Träume unserer Rüstungsindustrie und der jetzt entfesselten Kriegstreiber.

Der in der Ukraine tobende Krieg scheint unsere Welt schlagartig verändert zu haben. Und es drohen Alpträume wahr zu werden, vor denen wir lange gewarnt haben.

Und um das zu verhindern, liebe Friedensfreundinnen und -Freund, braucht es mutige Menschen. Die erkennen: Es gibt in dieser Situation nur eine sinnvolle Lösung. Es muss verhandelt werden und gemeinsam überlegt, wie wir aus dieser uns alle bedrohenden Spirale der Eskalation wieder herausfinden. Die Kriegstreiber auf beiden Seiten müssen Platz machen für die, die in der Lage sind, sich eine andere Welt vorzustellen und sie dann auch zu gestalten. Eine Welt, die Sicherheit nicht im Kampf gegeneinander sieht, sondern in der gemeinsamen Anstrengung aller Menschen unter dem gemeinsamen Himmel, wie ein chinesischer Philosoph das ausdrückt. Und in der die Probleme angegangen werden, die uns gemeinsam bedrohen: Die atomare Bedrohung, der Klimawandel, die gerechte Verteilung der uns bleibenden Ressourcen und die grundsätzliche Frage, wie wir als Menschen auf diesem Planeten auf Dauer und in Frieden existieren können.

Ich – und ich hoffe wir alle – weigern uns zu glauben, dass das nicht möglich sein soll, liebe Friedensfreundinnen und -Freunde.

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